... newer stories
Montag, 30. Juli 2012
"Being dylaned"
joeheritage, 14:02h
"Ein Kleid auf der Leine zum Trocknen gehängt, der Himmel an die schwärzesten Wolken verschenkt. Die Fenster weit offen, eine Tür schlägt im Wind, keiner kann bleiben, wo keine mehr sind."
Ich weiß wirklich nicht, woher das kommt; ich weiß keinen wirklichen Ort, mit dem diese Zeilen in meiner persönlichen Erinnerung verbunden wären. Und doch war ich da, an diesem Ort.
Ich könnte die Zeit, aus der stammt, was ich da aufgeschrieben habe, nicht genau bestimmen. Aber ich glaube, es ist lange her und längst nicht vorbei. Bilder, die mir diese Geschichte illustrieren, sind ausnahmslos schwarzweiß.
Im besten Falle weiß ich nichts. Wenn ich einen Song schreibe, habe ich aber eine Ahnung, als warte da etwas auf mich, das noch keiner entdeckt hat – Bilder, Worte, Töne, die merkwürdig zueinander finden wollen und mir, der dann nur noch den unbekannten Stimmen lauschen kann, bis diese gar nicht mehr fremd, sondern endlich vertraut klingen, mehr verraten als eine Geschichte, die nur in Fakten und Daten überliefert ist.
Wenn ich Glück habe, komme ich irgendwann an einen Punkt, an dem ich mich in der Geschichte verlaufe, die mich so nachhaltig beschäftigt, dass ich die Gitarre nur aus der Hand lege, um mit leeren Händen nach einem Pinsel zu greifen. Vielleicht malen mir Pinsel und Farben aus, wie diese Geschichte zu Ende erzählt werden muss?
Einmal, im November 1995, ich stand auf dem Bahnsteig in Mainz und wartete auf meinen Zug, der mich nach Freiburg bringen sollte, meldete sich zu einer mir seit Jahren vertrauten Musik ein Text, den ich, nachdem ich im Zugrestaurant Platz genommen hatte, fieberhaft aufschrieb. Diese Zeilen verschwanden jedoch schon bald in meiner Schreibtischschublade. Sie blieben dort so lange liegen, bis sie mir zehn Jahre später plötzlich wieder einfielen. Diese Zeilen verraten mir zumindest den Zeitpunkt des Geschehens, das dieser Song mir beschreiben wollte.
"Mein Herr, mein Herr, war das gestern oder heute,
wer sind all die Leute, die vor meinem Fenster stehen, mein Herr? Sagen Sie, wen Sie dort sehen, mein Herr!
Mein Herr, mein Herr, hören Sie die Schritte,
sind das Stiefeltritte? Sagen Sie, was Sie dort sehen, mein Herr!
Warum bleiben Sie nicht stehen, mein Herr?
Ich kann weithin Stimmen hören, doch ich sehe kein Gesicht,
und die Stimmen werden lauter, doch verstehen kann ich sie nicht. Durch die Fenster fliegt ein Stein, und ich rieche schon den Rauch, und der Stein bleibt nicht alleine, und ich höre Schreie auch.
Mein Herr, mein Herr, hören Sie das Splittern,
spüren Sie nicht mein Zittern? Sagen Sie, wo sind Sie denn, mein Herr? Sagen Sie, wer sind Sie denn, mein Herr?
Mein Herr, mein Herr, wenn ich Sie nur fände,
bitte machen Sie ein Ende! Folgen Sie den Schritten nicht, mein Herr! Hören Sie mein Bitten nicht, mein Herr?"
Kein Song kommt von alleine. Und jedes neue Lied bringt irgendetwas mit, das übriggeblieben ist.
Wer solchen Geschichten aufmerksam zuhört, um von ihnen etwas zu erfahren, das er sich nicht erklären kann, ist nicht selten unterwegs zum nächsten Song, auch wenn er selbst auf der Stelle zu treten scheint und die neue Strophe noch nicht zu erreichen ist.
"Meine Stadt liegt tief im Nebel,
ich komm nicht mehr raus,
halt die Hand schon auf der Klinke,
dies ist nicht mein Haus."
Am 3. Februar 2010 – Bob Dylan gab an diesem Tag übrigens keins seiner rund 100 Konzerte, die er im Schnitt pro Jahr spielt, so verraten Archive – wurde Giacomettis „L’Homme qui marche“ bei Sotheby’s für 74,4 Millionen Euro versteigert – der höchste Betrag, zu dem je ein Kunstwerk auf einer öffentlichen Auktion den Besitzer wechselte.
Giacometti schuf seine mannsgroße Bronzeskulptur im Jahr 1960, sie hat sozusagen zu ihrem 70. Geburtstag erneut den Besitzer gewechselt. Die meiste Zeit ihres Daseins stand diese Figur jedoch unbewegt auf der Stelle.
„I know, it looks like I’m moving, but I’m standing still.“
1960 verließ irgendwo in der amerikanischen Provinz ein junger Mann sein Elternhaus – so wie vielleicht 17 weitere an diesem Tag. Sein Name: Robert Allen Zimmerman, das zumindest stand in seinem Pass, so glaubt man bis heute zu wissen. Sein Ziel, wenn es auch ursprünglich ein ganz anderes war: Die nächst größere Universitätsstadt, wo er sich fürs Studium einschrieb. Lange sollte er dort nicht bleiben; er spielte lieber auf seiner Gitarre und hörte Musik, so oft und so lange es irgend ging. Er war zumindest seiner Heimatstadt Hibbing endlich entkommen. Er hinterließ Bruder, Vater und Mutter. Und mit seinem Namen ließ er auch eine scheinbare Identität hinter sich, die sich mit nichts, was er in sich spürte, ausfüllen ließ.
„Ain’t talkin’, just walkin’.“
Knapp 100 Jahre zuvor glänzte ein junger Franzose in Charleville-Mézieres nahe der französisch-belgischen Grenze mit seinen schulischen Leistungen. Die Mutter, so sagt man, sei stolz gewesen auf ihren Arthur, der sich selbst 1871 als „siebenjährigen Dichter“ bezeichnete. Zumindest in der Retrospektive des Siebzehnjährigen erscheint das als eine frühe Auflehnung gegen die alleinige Gewalt der Mutter über den Sohn, nachdem Arthurs Vater sich aus dem Staub gemacht hatte und seine Ehefrau sich fortan verhielt als sei sie verwitwet.
Ein Foto zeigt den Achtjährigen, der zur Heiligen Kommunion aus scheinbar stahlblauen Augen finster die Linse der Kamera aufs Korn nimmt – gestochen scharf sein Blick, als dränge eine Wut aus ihm heraus, für die er seinen mickrigen Körper verantwortlich macht, der allzu langsam wachsen will – gefangen als Mutters eigenes Fleisch und Blut. Aber irgendwann, das verrät diese Wut mir auf dem Foto bereits, irgendwann will er diesem Gefängnis entkommen, und sei es zu Fuß und ohne einen Sous in der Tasche. Notfalls – vorübergehend – auch nur mit einem Vers, den er aufs Papier schmiert.
„I made shoes for everyone, even for you, while I still go barefoot.“
Wenige seiner Zeitgenossen haben ähnlich weite Strecken zurückgelegt wie Jean Arthur Nicolas Rimbaud, der Weltreisende auf der Flucht vor dem Stillstand – und zeitlebens im Angesicht der übermächtigen Mutter.
„Oh where have you been, my blueeyed son? Oh where have you been, my darling young one?“
Aus dem Jahr 1964 ist mir ein Familienfoto erhalten geblieben: Es zeigt meine Lieblingstante Gretl, die ihren vierjährigen Neffen in Schlips und Anzug an ihrer Seite mit einem Lächeln aufzumuntern versucht.
Ich bin hart geblieben damals, fixierte die Kamera mit meinem unerbittlichen Blick, schließlich hatte ich mich vorher schon demonstrativ aus der Hochzeitskutsche fallen lassen. Warum? Ich weiß es bis heute nicht. Ich habe aber eine leise Ahnung, meine Mutter könnte es mir heute vielleicht verraten, wäre sie nicht bereits 1997 gestorben.
1973 höre ich zum ersten Mal den Namen „Bob Dylan“. Richard, ein Freund meiner Schwester, der mich einmal pro Woche auf der Gitarre unterrichtet, hat mir bereits die zwei Akkorde zu „He’s Got the Whole World“ auf der Wandergitarre meines Vaters beigebracht; diese Gitarre bekam mein Vater von seiner Mutter, meiner „Memminger Oma“, die wie mein Vater aus Tirol stammte, zum 40. Geburtstag geschenkt. Er hat sie nie in Gebrauch genommen.
Willst du vielleicht „Blowin’ in the Wind“ lernen, fragt Richard mich. Ich habe dieses Lied nie gehört, sage ich ihm, und weil mein Gitarrenlehrer mich ungläubig fragt, ob das mein Ernst sei, komme ich mir entsetzlich dumm vor, lasse mir den dritten Akkord zeigen, der mir zur Begleitung noch fehlt und lerne fleißig den Text auswendig. Und fahre sofort am nächsten Tag allein mit dem Bus in die Stadt, um mir eine Schallplatte von Bob Dylan zu kaufen.
Die kommenden Tage bis zur nächsten Gitarrenstunde höre ich „Bob Dylans Greatest Hits“ rauf und runter. So gut wie kein Wort verstehe ich von dem, was dieser Bob Dylan mir da singt, aber seine Stimme bringt mich nicht mehr vom Plattenspieler und meiner Gitarre weg. Ich versuche meist nur, seine Laute zu imitieren, die mir seltsam vertraut und zugleich geheimnisvoll erscheinen. Innerhalb kürzester Zeit investiere ich all mein Taschengeld zur Anschaffung sämtlicher bereits veröffentlichter Alben, um dieses merkwürdig verständnisvolle Gespräch weiterzuführen.
Es dauert ein Jahr, bis ich selbst mein erstes Lied schreibe. Bis dahin kann ich den Großteil seiner Songs schon auswendig, Richard studiert mittlerweile in Tübingen Theologie, und ich habe mir durch intensives Lauschen alle erforderlichen Akkorde und Techniken von den Platten und aus Songbooks allein erarbeitet. Meine schulischen Leistungen kann man schon kaum noch als solche bezeichnen. Hilflos beargwöhnen Mutter und Vater mich.
1976 ziehen wir aus dem Schwäbischen ins Rhein-Main-Gebiet. Ich gebe eine Abschiedsparty und verliebe mich an diesem Abend, weiß aber noch nicht in wen. Gleich vier Mädchen aus meiner Klasse gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Aber die eine, Ramona, schickt einen Brief, der mir plötzlich klar macht, dass sie es wohl ist, der ich in Gedanken nachhänge, sobald ich mittags aus der Schule komme und mir die Kopfhörer aufsetze. Und natürlich ist die Gitarre, die ich mir mittlerweile von meinem Konfirmationsgeld gekauft habe, mein bester Freund und ständiger Begleiter. „Song to Ramona“ spiele ich so lange bis mir klar wird, dass ich nicht Bob Dylan bin und Ramona eben nur eine Namensvetterin der von Dylan Besungenen ist. Und da gelingt mir auf einmal der erste Song auf Deutsch.
"Ich zog mir meine Stiefel an, verlor die Augenblicke ganz und gar, und als ich mich besann, ja, da war schon alles nicht mehr wahr."
1977 stehe ich das erste Mal mit diesem Lied, gemeinsam mit meinem Freund Thommy und mit Dylansongs auf der Bühne. Seitdem, und vor allem nachdem ich von der Rolling-Thunder-Revue sowie die Aufnahmen von „Hard Rain“ nahezu in Dauerschleife gehört habe, wird der Wunsch nach einer beruflichen Ausweitung meiner großen Leidenschaft immer stärker.
Und von Rimbaud habe ich mir mittlerweile eine Reclam-Ausgabe der „Zeit in der Hölle“ gekauft. Nur von den „Briefen des Sehers“ weiß ich noch nichts.
„Ich ist ein anderer.“ *
„I and I in creation of ones nature neither honours nor forgives.”
Es gelingt mir nicht, und ich weiß auch noch gar nicht, wie ich das in Worte fassen sollte, also scheitere ich bereits früh an der Versinnlichung sämtlicher Dinge.
1978 schafft es der Konzertmanager Fritz Rau, Bob Dylan erstmals für eine Reihe Konzerte nach Deutschland zu holen.
Zu fünft brechen wir auf, fahren einen Tag vorher bereits mit einem geliehenen Zelt im Auto aufs Zeppelinfeld nach Nürnberg. Dass dieser Ort ein historischer ist, wissen wir nicht, bekommen aber nach Einbruch der Nacht sehr bald schon eine Ahnung davon: Wir besichtigen im Dunkeln dieses Gelände und beschließen spontan, dort nicht länger bleiben zu wollen und stattdessen das Hotel aufzusuchen, in dem, wie wir erfahren haben, Bob Dylan und Eric Clapton untergebracht sind.
In der Lobby des Hotels sitzen wir die ganze Nacht, lassen uns von diversen Musikern, die am nächsten Tag auf dem Festival auftreten werden, Autogramme geben und fragen „by the way: where is Bob?“ Als ich ein Gespräch zwischen Fritz Rau und einer Amerikanerin belausche, die offenbar zu Dylans Management gehört, schnappe ich seine Zimmernummer auf, verlasse die Lobby und suche nach der nächsten Telefonzelle. Ich rufe in der Rezeption des Hotels an und verlange im breitesten Amerikanisch, das mir möglich ist, „room four-o-four please“. Man stellt mich durch, nach einem zweimaligen Tuten hebt jemand ab, hängt aber gleich wieder ein.
Als ich die Telefonzelle verlasse, sehe ich am Fenster schemenhaft eine Gestalt, die durch die Gardinen einen kurzen Blick auf die Straße riskiert.
Nach dem Konzert am nächsten Tag brechen wir ein zweites Mal auf, schaffen es aber nicht, das Gelände zu verlassen. Ohne Schlaf und nach siebzehn Stunden im Schneidersitz gehorcht mir mein Körper nicht mehr. Ich bin nicht mehr in der Lage, mein Auto zu steuern.
Am Montag nach dem mit 80.000 Besuchern bis dahin größten Festival auf deutschem Boden, berichtet mir meine Freundin Doris, dass Clapton und Dylan in dieser Nacht eine Session in der Hotellobby abgehalten haben.
Und meine Mutter erzählt mir, an welchem Ort ich gewesen bin: auf dem Gelände, wo einst Hitler seinen Reichsparteitag zelebrieren ließ. Meine Mutter, Tochter eines überzeugten Nationalsozialisten der ersten Stunde, war vom Vater dabei erwischt worden, wie sie heimlich zum Kommunionunterricht ging. Es prasselten zunächst unerbittliche Schläge auf ihren achtjährigen Hintern, am nächsten Tag versprach der Vater ihr, bald mit ihm zum Reichsparteitag nach Nürnberg fahren zu dürfen. Dieses Versprechen blieb er ihr aber bis zu seinem Verschwinden in Oberitalien 1944 schuldig.
Zahlreiche Dylan-Konzerte sollten folgen, er kam im Laufe der Jahre so gut wie regelmäßig nach Deutschland, und ich ließ kaum eine Gelegenheit aus, mir anzuhören, wie er seine Songs von Mal zu Mal veränderte.
Meine Eltern trennten sich 1978, mein Vater ging beruflich nach Berlin, meine Mutter zog sich allein in unser zweites Zuhause in Tirol zurück. Ich brach die Schule ab, zog allein von Frankfurt nach Düsseldorf, um dort eine Lehre als Verlagskaufmann zu beginnen, weil die Familie meiner Freundin ins Münsterland umziehen musste.
„If today was not an endless highway, and if tonight was not a crooked trail, and if tomorrow wasn’t such a long time, then lonesome would mean nothing to me at all.
Yes and only if my own true love was waiting, and if I could hear her heart so softly pounding, yes and only if she was lying by me, then I’d lie in my bed once again.”
Wenigstens meiner Freundin wollte ich einigermaßen nah sein, zog aber schon nach eineinhalb Jahren wieder allein zurück, weil ich da nicht wieder heimisch werden konnte, wo ich meine Kindheit verbracht hatte. Aus meiner Liebe war eine schmerzhafte Abhängigkeit geworden, sie zerbrach. Und ich ertrug die Depressionen meiner mittlerweile aus Tirol zurückgekehrten Mutter nicht mehr, die immer mehr unter der Trennung von meinem Vater litt.
"Die schwarze Frau war wieder da,
sie ging vorbei und ich blieb stehen,
und sie verschwand so wie sie kam,
ich schau ihr nach und kann nicht weitergehen."
Ich schmiss die Lehre, zog wieder zurück ins Rhein-Main-Gebiet, wo eine neue Liebe auf mich zu warten schien und begann eine Lehre als Buchhändler.
In dieser Zeit begann ich häufig in Kneipen und Klubs zu spielen, erst allein, dann in verschiedenen Bands als Sänger und Mundharmonikaspieler. Mit meinem Partner Bernd war ich drei Jahre im Duo mit unseren „Songs & Liedern“ unterwegs. Neben eigenen Liedern spielten wir immer auch zahlreiche Dylansongs.
Mit regelmäßigen Auftritten in den Musikkneipen Frankfurts und gelegentlichem Taxifahren hielten wir uns über Wasser und unsere träumenden Köpfe in den Wolken, bis die Neue Deutsche Welle uns von den Bühnen der Musikklubs spülte.
„One more cup of coffee for the road, one more cup of coffee before I go to the valley below.“
Bernd floh mit seiner neuen Liebe in die Vereinigten Staaten. Und ich dockte 1984 auf Veranlassung meiner Mutter im väterlichen Verlag an. Mit der Musik war es bald schon vorbei. Eine Zeit lang sang ich mir mit wundem Herz noch die Kehle in einer Bluesband heiser, dann sorgte eine neue unglückliche Liebe für mein dortiges Ausscheiden. Und auch meine eigenen Songs fanden den Weg nicht mehr zu mir. Ein vermeintlich letzter Song entstand, dessen Refrain mir später erst deutlich machen sollte, dass ich mir mein Verstummen selbst eingehandelt hatte.
"Du warst die Königin in mir, du hieltst mein Herz in deiner Hand, hast jedes Wort und jedes Bild und jeden Reim in mir verbrannt."
Ich schrieb nur noch verstörende Träume, für die ich mich schämte, in mein Tagebuch – Songs konnten daraus nicht entstehen.
Es war 1988, drei Jahre nach dem Tod meines Vaters: Ich war mittlerweile überschuldeter Mitinhaber einer Buchhandlung in Hanau, der Erb Verlag stand kurz vor der Auflösung durch Konkurs und wurde von meiner Mutter und meiner Schwester notdürftig aufrechterhalten.
Ich besuchte meine Freunde in den USA und hatte dadurch die Gelegenheit, Dylan live in Portland, Oregon zu erleben. An dieses Konzert konnte ich mich später allerdings kaum erinnern, weil ich an diesem Tag von Frankfurt über New York und Cincinatti angereist und aufgrund dieses langen Trips bereits 37 Stunden ohne Schlaf gewesen war, als Dylan in Portland die Bühne betrat. Mike knuffte mich immer wieder in die Rippen, wenn mein Kopf mir auf die Brust sank.
Nach meiner Rückkehr verschaffte mir aber ein Mainzer Freund, der eifrig Dylan-Bootlegs sammelte und streng archivierte, die Aufnahme dieses Konzerts, und so konnte ich schließlich doch noch bewusst hören, was ich hauptsächlich verschlafen hatte. Die Kassette ist mit der Zeit wie all die zahlreichen anderen Raubkopien irgendwo verschüttgegangen. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie mir je mehr als ein Mal angehört habe. Und Jürgen aus Mainz habe ich vor Jahren schon aus den Augen verloren. Ich traf ihn nicht einmal mehr auf späteren Dylan-Konzerten.
Während dieses USA-Trips schrieb ich dann plötzlich einen Song, der wieder einmal für viele Jahre mein letzter bleiben sollte. Ein Liebeslied an die Frau, in die ich mich erst kurz vor meiner Abreise aus Deutschland verliebt hatte, und mit der ich nach meiner Rückkehr dann ein ganz anderes Leben anfing. Ich begann als Verlagsvertreter zu reisen, besuchte Buchhandlungen und verkaufte meist Bücher, die ich nicht lesen wollte. Gemeinsam mit ihr erlebte ich ein Dylan-Konzert in Offenbach – da planten wir gerade unsere Hochzeit. Ich erinnere mich, dass ich selbst dieses Konzert durchaus genossen habe, meiner Braut gefiel aber die offensichtlich stark alkoholisiert über die Bühne wankende Legende kaum. Jahre später sagte sie mir das einmal.
Wir zogen zusammen und kauften bald schon ein kleines Haus.
Als unsere Tochter unterwegs war, brachte mich ein Kollege meiner Frau, der mich zum Gitarrenkauf mitnahm, auf die Idee: Ich begann selber nach einer wirklich guten Gitarre Ausschau zu halten, jetzt, da ich es mir erstmals leisten konnte. In Marburg fand ich eine A&M, und nach Jahren der Abstinenz griff ich auf einmal wieder täglich in die Saiten, um zurück zu den Songs zu finden. Und wieder waren es Dylansongs, die ich als erstes auf dem neuen Instrument ausprobierte.
„You gave me babies, one, two, three, what is more, you saved my life, eye for eye and tooth for tooth, your love cuts like a knife.“
Ich musste aber auch nicht lange auf den nächsten eigenen Song warten.
"Dort wo die Sterne funkeln, dort wo die Zwerge munkeln, dort wo der Mond im Dunkeln lacht, ist dein Zuhaus.
Hier, wo du wohnst, ist immer für deinen Traum ein Zimmer, und deine Zimmertür ist immer für ihn auf.
Schlaf ein und träume leise, dein Traum geht auf die Reise, er schlüpft auf seine Weise leise aus dem Haus."
Mit diesem Song kündigte sich meine Tochter bei mir an. In der Nacht, als wir ins Krankenhaus aufbrachen, hing der fette gelbe Vollmond am Himmel. Die Hebamme wollte mich wieder nachhause schicken – ich blieb. Meine Tochter kam drei Stunden später.
Meinen Sohn begrüßte ich mit einem Lied, das mir mein Vater geschickt zu haben schien.
"Du bist Sohn von einem Sohn, wirst deiner Schwester Bruder sein, und solang es Menschen gibt, wirst du nie alleine sein.
Einen Stern schenkt dir der Mond für den Stein in meiner Hand, für den Staub an deinem Schuh such im Morgen dir ein Land."
Wir kauften ein größeres Haus und wurden uns ganz allmählich fremd – so fremd, dass es wehtat.
Das ist elf Jahre her.
„But I was so much older then, I’m younger than that now.“
Seit dieser Zeit habe ich zahlreiche Lieder geschrieben, mein Konzeptalbum veröffentlicht sowie eine Live-CD. Ich arbeite täglich an Songs, auch wenn sie sich manchmal nicht singen lassen. Dann gestalte ich aus den Songs Songgrafiken. Oder versuche Worte nur auf dem Papier klingen zu lassen. Hauptsache ich finde zurück zu mir und meiner Lebendigkeit.
Ich denke in Liedern. Aus den fremden Träumen, die mich damals verfolgten, ist ein Leben mit Worten, Bildern und Tönen geworden. Sie begleiten mich heute. Ein Leben ohne Songs & Lieder ist mir nicht mehr vorstellbar.
Kaum eine Lebenssituation, zu der mir nicht eine Zeile aus einem Dylansong einfällt. Oft ist mir eine davon hilfreich gewesen, den Dingen mit eigenem Blick zu begegnen, auch wenn ich mich immer wieder scheinbar nicht vom Fleck bewege.
„People don’t live or die, people just float.”
1980 brach ich zum ersten Mal ganz allein in die Fremde auf, fuhr nach Charleville-Mézieres, auf den Spuren Rimbauds. Ich fand aber damals noch nicht viel.
In mein Notizbuch schrieb ich damals lediglich einen Satz, der mir auf Französisch eingefallen war, als ich vor dem Grab gestanden und in mir nach irgendetwas gelauscht hatte, das dazu geeignet gewesen wäre, selbst von der Stelle zu kommen: „Il était trop tôt, je suis trop tard.“ Wenn ich mich recht erinnere, schrieb ich den Satz noch einmal auf einen kleinen Zettel und stopfte ihn in die Graberde. Dabei dachte ich an Rimbauds Knochenkrebs, an dem er, wie es heißt, zugrunde ging. Nicht fortlaufen zu können, nicht mehr unterwegs sein zu können, war am Ende wieder seine größte Qual.
„ Every nerve in my body is so vacant and numb.
I can’t even remember what it was I came here to get away from.”
Manchmal frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich mich als Vierjähriger damals nicht in den Staub, sondern gleich unter die Hochzeitskutsche geworfen.
Welcher Song könnte mir wohl davon erzählen?
Ich weiß es nicht. Aber ich spüre eine leise Ahnung in mir.
“You know, it’s possible to become so defiled in this world that your own mother and father will abandon you. And if that happens, God will always believe in your own ability to mend your own ways.”
"Unterwegs solang ich denken kann und kein Steuer, das ich lenken kann. Und es sieht so aus, ja, es sieht so aus:
Unterwegs solang ich denken kann und kein Weg, den ich mir schenken kann, und es sieht so aus, als gäb es kein Zuhaus.
Und es sieht so aus, als sucht’ ich mir das ganz alleine aus."
---
Die in Anführungszeichen gesetzten Zitate englischer Sprache sind sämtlich dem schriftlichen und mündlichen Werk Bob Dylans entnommen.
* Zitat aus dem Seherbrief von Rimbaud
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories