Freitag, 28. Oktober 2011
"Ich bin kein Buch, dessen Inhalt man anzweifelt."


Noah Klieger, Auschwitz-Überlebender und dienstältester Journalist Israels, kommt nach Hamburg. Und nach Berlin.

Gemeinsam mit ihm werde ich zwei besondere Erinnerungsabende gestalten.

Er und ich, zwei ganz unterschiedliche Erzähler, denen die eigene und auch die gemeinsame Geschichte am Herzen liegen, und die sich lebendig der mündlichen Überlieferung verschrieben haben, werden am 09.11.2011 im Logensaal der Hamburger Kammerspiele und am 11.11.2011 im DGB-Gewerkschaftshaus, Kleiststr. 19-21, an den 9. November 1938 und seine Folgen und Auswirkungen erinnern.

"War das gestern oder heute?"

http://www.logensaal-kammerspiele.de/programm/09-11

http://www.berlin-brandenburg.dgb.de/article/articleview/8336/1/9/

"Mein Herr" - der Song, den ich zur Eröffnung spielen werde: http://soundcloud.com/j-rgerb/mein-herr-foolsgarden


Noah Klieger kommt wieder einmal nach Deutschland, um an den verschiedensten Orten auf dieser Welt über das zu berichten, was er erlebt hat. Er tut das seit über 60 Jahren.
Im Schnitt hat er bis heute wöchentlich zwei- bis dreimal überall dort gesprochen, wo Menschen waren, die bereit waren zuzuhören - er hat vor sieben Menschen und auch vor siebentausend gesprochen.
Er tut das grundsätzlich ohne ein Honorar dafür zu verlangen, weil er es als seine zentrale Aufgabe sieht, über das zu berichten, was unfassbar bleibt, egal wie lange man nach Erklärungen sucht. Erklären will er nichts. Noah Klieger ist ein Zeitzeuge, er berichtet.

Noah hat Ausgrenzung und Verfolgung überlebt. Er hat die Zwangsarbeit überlebt. Und er hat auch die geplante Vernichtung überlebt. Er hat alle Lager überlebt.
Auch Auschwitz.
Auch Ravensbrück.
Auch Dora-Mittelbau.

Noahs Familie – er, seine Mutter und sein Vater; sein Bruder entging durch Emigration der Deportation – ist die einzige Familie, die zur Vernichtung nach Auschwitz deportiert wurde, Auschwitz aber lebend verlassen konnte.

Sein Überleben ist ein Wunder. Mehrfach ist er der Vernichtung nur durch eine plötzlich unbewusst getroffene Entscheidung entgangen.

Nur ganz wenige der Überlebenden hatten die Kraft zu erzählen. Noah wird so lange er lebt über das berichten, was er erlitten hat. Heute ist er 85 Jahre alt.

Im letzten Jahr ist sein Buch "Zwölf Brötchen zum Frühstück" - Reportagen aus Auschwitz erstmals auf Deutsch erschienen.

http://www.wjs-verlag.de/books/64,zwoelf-broetchen-zum-fruehstueck

Noah berichtet immer in freier Rede, er liest nicht vor.
Wer ihm zuhört kann eine Ahnung bekommen von den deutschen Verhältnissen und Zuständen der Jahre 1933 - 45. Nicht mehr.
Noah selbst weiß aber mehr. Er weiß, wozu Menschen imstande gewesen sind. Er weiß nicht warum, aber er berichtet von ihnen und ihren unmenschlichen Verbrechen.

Immer mehr Daten, Zahlen und Fakten sind im Laufe der letzten Jahrzehnte trotz kollektiver Verschwiegenheit ans Licht gekommen. Täglich werden neue Daten im Netz veröffentlicht. Nie wird alles aufgedeckt sein. Und doch weiß Noah mehr, weil er erlebt hat, was keine Zahlen, Daten und Fakten jemals wiedergeben können.

Das, was wir nicht fassen können, können wir auch nicht erklären.
Aber Noah berichtet darüber; er hat es erlebt.

Noah Klieger ist ein Überlebender.
Er erzählt nicht nur seine eigene Geschichte - unsere deutsche Geschichte bliebe unvollständig, würden wir seine Geschichte nicht wahrnehmen.

Was Noah Klieger uns erzählt ist nicht schön. Es ist aber gut, dass er erzählt. Und es bleibt notwendig.

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Mittwoch, 7. September 2011
Dauerhaft



Ich sehe immer so schwarz, wie es in mir gerade dunkelt.


Der Letzte hatte das Licht ausgemacht und mich dabei wohl übersehen.
Die lichten Momente sind seitdem so selten geworden wie die gestrige Gier nach den Sternstunden unter Kumpanen.
Im grausauren Nebel der Einzelhaft erlöschen die Lichter jetzt dauerhaft.
Und nur die Schatten atmen weiter im verfahrenen Schweben.

Was mich im Stillen erhellte, wurde nicht Welt; es verklärte sich zur schlammigen Realität all der Teilhabenichtse, sobald sie mein eigenes Wort vernahmen.
Sie hatten es mir jüngst verübelt.
So alt waren wir immer zusammengekommen.

Sie nahmen alles an, was nach Wahrheit klang, aber kaum etwas wahr, was der andere anzunehmen bereit gewesen war.

Meine Sprache hatte dort alles verloren.
Ein jedweder Verlust blieb im Besitz einer fremden Eigentümlichkeit.

In mir sucht das Dunkle nach eigener Schwärze.

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Montag, 29. August 2011
11.09.2001 - Twelveeleven



Der 11.09.2001 war ein Dienstag. Das hätte ich nicht gewusst, ohne das Datum vorher nachgeschlagen zu haben. Aber ich weiß auch nicht, welcher Wochentag der 09.11.1938 war. Oder der 08.05.1945.

An meinen vermeintlich ersten Gedanken beim Betrachten der Bilder auf der Mattscheibe kann ich mich aber noch erinnern: "Wem nützt das?"

Wir wollten wandern gehen – ich weiß nicht mehr, ob im Spessart oder im Odenwald? Aber ich erinnere mich daran, dass wir unseren Kurztrip um einen Tag verschoben haben und erst am nächsten Tag zum Wandern fuhren.
An diesem nächsten Tag, der also wahrscheinlich der 12.09.2001 und ein Mittwoch gewesen sein wird – beschwören wollte ich das nicht –, kaufte ich mir ein Paar sehr teure Wanderschuhe inklusive einem Paar Wandersocken.

In diesen Wandersocken und Wanderschuhen bin ich gelaufen, das weiß ich noch, aber nicht mehr wie lange wir liefen – eine kurze, eine weite Strecke? Ich habe noch ein Bild vor mir, das in meinem Gedächtnis gespeichert ist: Das Aushängeschild (eine Vitrine) eines Gasthofs, den wir, von der Höhe ins Tal hinabsteigend, vor Augen hatten und vor dem wir kurze Zeit später dann standen.
Ich weiß weder wie der Gasthof hieß, noch was wir uns von ihm versprochen hatten, aber wir kehrten dort ein, und ich meine, wir nahmen auf einer Terrasse Platz.

Dieses erinnerte Bild ist nicht klar sondern verschwommen und weich in mir abgespeichert. Könnte man mir ein Foto von dieser Erinnerung vorlegen, würde ich vermutlich behaupten, es wiedererkennen zu können.

Wir waren noch frisch aber schon schwer verliebt – ich glaube, nur diese Bezeichnung trifft unseren zweisamen Zustand damals genau. Ich erinnere aber keinen Kuss, keine Umarmung, kein Gefühl auf der Haut oder gar nacktere Emotionen.

Ich weiß nicht, wie oft wir die immer gleichen Bilder im Fernsehen betrachteten. Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit wir insgesamt vor dem Fernseher verbrachten und wie lange wir schließlich draußen beim Wandern waren.
Das Hotelzimmer war hässlich, das weiß ich noch. Ich erinnere mich aber an keine Fakten.

Ich vermute bis heute, im Gesichtsausdruck des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika - als man ihn dabei filmte, wie er die Nachricht über den Anschlag zugeflüstert bekam -, keine Überraschung feststellen zu können.

Nie käme ich auf die Idee ausrechnen zu wollen, wie viele Kilometer ich in meinen blauen Wanderschuhen seit dem 12.09.2001 zurückgelegt habe – wie ungenau müsste eine solche Wahrscheinlichkeitsrechnung eines schon in der Schule gescheiterten Rechenkünstlers sein?
Das Exakte hat man mir nicht beibringen können, und den Wahrscheinlichkeitsrechnungen misstraue ich bis heute gern und am liebsten gründlich.

Was ich wahrnehme, beschäftigt mich aber dauerhaft.

Irgendwann im Mai – in welchem Jahr, weiß ich nicht mehr, da müsste ich nachschlagen –, ging ich nach einem heftigen Regenschauer meinen gewohnten Spazierweg. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon mit oder noch ohne Hund unterwegs war.
Zum ersten Mal in diesem Jahr glaubte ich, der Sommer sei nun endlich gekommen. Ich roch das nasse aufgestapelte Holz, das jetzt von der Sonne beschienen seinen Duft verströmte. Ich ging plötzlich leichter, ich bewegte mich spürbar anders. Dieser Duft, dieses Licht, diese Farben – ich fühlte mich glücklich verliebt.
Und ich dachte an ein Paar Schuhe, das ich lange Zeit und über schwere Strecken an den Füßen getragen hatte.
Diese Schuhe besitze ich heute nicht mehr. Aber ich habe ihnen eine Zeile in einem Lied gewidmet, das ich häufig singe:

"Die Schwalbe, die den Sommer macht,
hat Wind und Regen mitgebracht,
und Duft von Holz, das Wasser saugt,
und Schuhwerk, das zum Schlendern taugt."

Wenn ich dieses Lied singe, assoziiere ich aber immer meine blauen Wanderschuhe, die ich nahezu täglich auf meinen Hundespaziergängen trage, bis heute.
Ich weiß aber nicht genau, ob mich dann nur das tausendfach ähnlich wahrgenommene und nun erinnerte Bild meiner blauen Schuhe begleitet, oder auch die mit den Schuhen verbundene Empfindung, wie es sich anfühlt, in ihnen gelaufen zu sein.

http://www.myspace.com/joergerb/music/songs/02-farben-foolsgarden-mp3-83879523

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