Montag, 31. Oktober 2011
"In Deutschland, nach dem Krieg"



Der Laden des Schuhmachers

Partous deutet auf ein kleines Haus – die Werkstatt eines Schuhmachers –, das umgeben ist von Schutt, Schmutz und Scherben. Lauter zersplittertes Glas und zerdeppertes Geschirr.
Darüber humpeln und trampeln lauter Rotgesichtige einen grausig absurden Tanz. Sie drohen mit den Fäusten ins Leere – der Schuhmacher will ihnen die Tür nicht öffnen; er hört sie vielleicht nicht einmal mehr.

Die Rotgesichtigen tragen alle keine Schuhe, und als wir mit unserem Ballon etwas tiefer und also auch näher kommen, höre ich, wie sie den Schuhmacher verteufeln: "Wir sind barfuß, siehst du das nicht? Du hast uns die falschen Schuhe gemacht, sie drücken überall."
Als mir diese Gestalten schon beinahe zum Greifen nah erscheinen, entdecke ich zu ihren schrundigen Füßen schmutzige, nur mit Fetzen ihres letzten Hemdes bekleidete Kinder. Arme und Beine, auch ihre Hälse sind ganz dünn. Ihre Haut bleich, ihre Körper Gerippe; ihre Blicke sind trüb. Manche Gesichter erscheinen mir bekannt oder zumindest vertraut, und plötzlich meine ich, sie starren mich selbst an, als kämen wir ihnen zu nah, und als träfe mich jetzt ihr stumpfer Blick, um sich allein in mir zu verlieren.

Diese Kinder tragen Ketten um den Hals, durch diese Ketten sind sie mit den vernarbten Knöcheln der rotgesichtigen Eltern auf Schritt und Tritt verbunden.
Bei jedem ihrer verzweifelten Bewegungen schnüren die Erwachsenen den baumelnden Kindern die Luft ab. Die Genicke der Kinder drohen zu brechen.

Das, was ich sehe, treibt mir die Tränen in die Augen, und es schmerzt mich der notwendige Abschied, den mich Partous bereits spüren lässt. Ich schluchze noch, mein Gesicht in den Händen verborgen, weil ich nicht mehr hinsehen mag.
Da berührt mich Partous' Hand an der Schulter. Ich sehe ihn an, und er deutet noch einmal nach unten. Ich will einen letzten Blick auf die Werkstatt des Schusters werfen.

Ich sehe, wie sich die Ladentür öffnet. Ein Mann tritt heraus, eine Gitarre hängt über seiner Schulter. An den Füßen trägt er ein paar Stiefel. Mit jedem Schritt schiebt er sich selbst leichtfüßig durch den Schutt; so bahnt er sich allein entschlossen seinen Weg, und die zeternde Meute hält für einen kurzen Moment still.

Partous hält den Ballon jetzt an. Wir fahren nicht mehr, wir schweben lautlos über dem Geschehen.

Ich sehe, wie der gestiefelte Mann kurz innehält, um sich zu bücken: Er wühlt aus dem Schutt einen Hut hervor. Er klopft ihn ab, setzt ihn sich auf und beginnt im Gehen ein Lied zu spielen. Ich höre, was er singt: "I made shoes for everyone, even for you, while I still go barefoot..."

Partous bedeutet mir, dass es nun Zeit ist, sich wieder zu entfernen.
Wir steigen auf, höher und höher, und der Sommerrestabendwind trocknet mir die Tränen. Aber ich schluchze nicht mehr.
Und Partous singt mir das Scherbenlied.


Das Scherbenlied

Und wenn mein Fenster nur ein Spiegel wär,
ich hör ein Lied, das mir von Scherben singt,
wenn alles fehlt, dann bin ich menschenleer,
ich will Musik, die mich nachhause bringt,
ich hör ein Lied, das ich dir sing.


Ich sing von dir – komm her und finde mich,
ich sing für dich – komm und begegne mir,
komm, sing mit mir,
ich hör ein lied

Lasst uns doch einsam, zweisam und gemeinsam sein
Mensch unter Menschen, dabei freisam sein
Dass einer hört, was keiner spricht
Dass etwas ganz wird, spürst du’s nicht?
Weil es kaputt bleibt, heilst du’s nicht
Weil es nicht heilt, niemals heilt
Teilst du es nicht

Ich sing von dir – komm her und finde mich
Ich sing für dich – komm und begleite mich
Komm, sing mit mir
Hörst du dein Lied

Und wenn mein Spiegel nur ein Fenster wär
Ich hör ein Lied, das mir von Scherben singt
Wenn alles fehlt, dann bleib ich menschenleer
Ich will Musik, die uns nach Hause bringt
Ich hör ein Lied, das ich dir sing

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