Dienstag, 25. Januar 2011
Rheinsteigwanderer, kommst du an die Loreley





Dieses Haus sucht einen anderen Namen.

Wenn du einmal Urlaub machst, wo andere leben, frag die Leute, die in diesem Haus wohnen und arbeiten, welchen Namen es trägt, seit 1937. Lass sie ihn aussprechen, diesen falschen Namen.
Und zeig ihnen das Bild, das du hier entdeckt hast; führ ihnen diese Fratze vor, mit der dieses Haus auf den Rhein starren muss, so lange schon.

Frag sie, ob sie eine Idee haben, warum das Haus diese Fratze zeigt. Frag sie, ob sie es ertrügen, wenn sie selbst ein solches Gesicht tragen müssten.
Und frag, ob sie eine Idee haben, wie das Haus einen anderen Namen finden könnte, einen Namen, der dem Haus und den Menschen, die dort täglich ein und aus gehen, gerecht werden kann. Einen Namen, der an die Menschen erinnert, die hier lebten und sich versammelten, einen Vater, eine Mutter oder Oma und Opa entfernt.

Frag nach, ob sie wissen, was eine Synagoge ist. Frag nach, ob sie wissen, wo hier in der Nähe Synagogen waren. Frag sie, ob sie wissen, wer dieses Haus, von dem ihr sprecht, einmal hat bauen lassen.

Frag sie, welches Gefühl deine Frage bei ihnen ausgelöst hat und erzähl ihnen, ob es dir leicht oder schwer gefallen ist, deine Fragen zu stellen.
Stell deine Fragen so freundlich wie du kannst.

Frag sie, ob sie gern leben und ob sie sich lebendig fühlen. Frag sie, ob sie einschätzen können, wann ein Mensch sich lebendiger fühlt – mit vielen verschiedenen oder mit ganz wenigen Gefühlen. Frag sie, wann sie das letzte Mal geweint haben. Wenn sie dir nicht antworten können, frag sie, seit wann hier in Deutschland, in Rheinland-Pfalz, am Mittelrhein, an der Loreley, in St. Goarshausen Indianer leben. Sag ihnen, du hättest nicht gewusst, dass Winnetou wirklich und immer noch lebt; richte ihm auch einen Gruß aus von mir. Man kann ja nicht alles wissen, das ist nur zu menschlich.

Je nach dem, wie freundlich man dir begegnet – oft stößt der Freundliche auf einen Fremden, dem der Freundliche ganz befremdlich erscheint –, lass dich eine Weile nieder. Vielleicht magst du etwas trinken und essen und auch dort, wo man dir reinen Rheinwein einschenken will, einmal nachfragen.

Frag dann, ob sie wissen, wer Simon Hecht war. Frag sie, ob sie wissen, wo dieser Simon Hecht gewohnt hat. Frag sie, ob sie hier gern zuhause sind. Und frag sie, ob sie Herrn Hecht einmal in Amerika besucht haben. Frag sie nach seinen Kindern, Enkeln, Urenkeln. Frag, ob Herr Hecht ihnen vielleicht einmal eine Ansichtskarte geschickt hat, auf der er seine Ansicht zu den Zeichen der Zeit von 1937 dargelegt hat. Sag ihnen, ich hätte dir erzählt, in der Stadt sei behauptet worden, er habe die Zeichen der Zeit erkannt; deshalb sei er nach Amerika ausgewandert. Frag, ob jemand Herrn Hecht nachfahren wollte. Frag, warum die anderen geblieben sind; hatten die die Zeichen der Zeit nicht erkennen können? Frag, ob sie eine Idee haben, warum Herr Hecht wohl klüger war.

Je nach dem, wie es dir ergeht mit dem Fragen, und welche Antworten du bekommst, vielleicht findest du ein Häuschen, was dir gefällt, in dem du dir vorstellen kannst, dauerhaft zu leben.

Biete dann an, es zu kaufen. Biete ihnen, sagen wir: 5.000,- Euro an; so viel kostet eine sehr luxuriöse Schiffsreise nach Amerika, mit allem Schnickschnack, den man sich nur wünschen kann.

Wenn man nicht auf dein Angebot eingehen will, sprich von den Zeichen der Zeit und verhandle nicht.
Sag ihnen, überall täten sich jetzt Menschen zusammen, die anderes wollten. Menschen, die neugierig, wach und lebhaft lieber Fragen nachgehen als falsche Antworten zu verwalten. Menschen, die sich zuhause fühlen wollen, die da leben wollen, wo sie bislang nur leben mussten. Hier, wo andere Urlaub machen. Hier, wo damals Väter und Mütter, Opas und Omas, Onkels und Tanten von Kindern schwarzweißen Urlaub machen mussten, weil der, dessen Name das Haus gegenüber vom Bahnhof so lange schon tragen muss, tatsächlich glaubte, dass das eine Freude war, und dass daraus Kraft entstünde.
Wie gesagt, verhandle nicht. Sag ihnen aber, dass 5.000,- Euro noch zu viel sein könnten, wenn irgendwann keiner mehr kommt, weil niemand mehr fragt und keiner mehr weiß.

Sag ihnen, dass damals das Fragen verboten war. Frag sie, warum sie heute nicht fragen.

Sag ihnen, ich sei fortgezogen, wie so viele vor mir.

Sag ihnen, ich sei immer noch traurig. Sag ihnen, ich sei immer noch wütend. Sag ihnen, ich würde mich immer noch schämen. Sag ihnen, ich hätte immer noch Angst, bei gelegentlichen Besuchen in das Gesicht dieser Stadt blicken zu müssen.
Sag ihnen, ich würde mich freuen, wenn sie mich eines Tages einladen würden, weil sie den Namen endlich gefunden haben.

Und sag ihnen von mir, ich mochte die verwalteten Antworten nicht mehr verkraften.

Jörg Erb, Werkstatt für Poetisches Handeln:
Kleine Ausstellung "ST. Goarshausen"

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