Samstag, 12. Februar 2011
Wind



Der Wind stieß das Fenster vor seinem Schreibtisch auf.
Aus diesem Fenster hatte er beim jahrelangen Schreiben zwischen den Zeilen immer wieder hinausgeschaut – sekunden-, minuten- und stundenlang nach momentaner Zerstreuung oder Orientierung gesucht und schließlich Tag für Tag noch immer Wort um Wort gefunden, das sich, meist in schwarzer Tinte auf weißem Papier, Buchstabe für Buchstabe festhalten ließ, um dann, nach gereifter Überlegung erneut sortiert, eine jeweils scheinbar letztgültige Ordnung gefunden zu haben, die sich aber jetzt durch rein zufällige Plötzlichkeit ins pure Chaos verkehrte, das alles Papierene im Raum umherfliegen, und somit jeden einmal entworfenen Gedanken erst auffliegen, taumeln, und dann abstürzen ließ.
Der Sturm hatte so die Worte des Dichters beflügelt, seine Sätze segelten auf und nieder; selbst die unverrückbaren sanken diesmal leichthin zu Boden.
Seine den Zweifeln mühsam abgerungenen Antworten, die er auf losen Blättern niedergeschrieben, gesammelt und wieder und wieder kleinteilig zusammengestellt und vor sich selbst noch einmal ausgebreitet hatte, wie die Landkarte einer Welt, die er nun wirklich bald betreten könnte, hatten sich in einem kurzen Augenblick seiner so schön und wunderbar erstarrten Ordnung entzogen.
Nichts blieb, wie es war. Seine Gedanken waren endlich frei. Erleichtert schloss er das Fenster. Es verlangte ihn jetzt endlich nach anderen Fragen.

"Jeder Blick ist ein Fenster.
Jede Betrachtung ist ein Blick aus einer Welt in eine andere.
Ein Bild ist offen für Veränderung.
Es ist immer bereit für eine neue Betrachtung."

Jörg Erb

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